“…, reihte sich ein in den Treck der Ottensener Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömten, um ihren Nachwuchs zu lüften, die Einkäufe aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger-Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus reiner Schafwolle ein kleines Kind, das irgendetwas Durchgespeicheltes aus Vollkorn in der Hand hielt.” Bäm!
Mit nur einem langen Satz pflanzt Dörte Hansen eine komplette Szene, fast schon eine ganze Geschichte vor das innere Auge und ins Hirn ihrer Leser. Ich bin schon nach den ersten Seiten völlig gefangen, kann das Buch nicht weglegen.
Altes Land erzählt die Geschichte zweier Flüchtlingsfrauen. Die eine, Vera, floh vor über sechzig Jahren mit ihrer Mutter aus Ostpreußen, landete ungeplant auf einem Gutshof im Alten Land und blieb dort stecken. Sie überlebt alle, die dort lebten, sie gehört da eigentlich nicht hin, aber sie kann auch nicht weg. Sie wacht über den Hof und läßt ihn dabei zusehends verfallen.
Jahre später steht ihre Nicht Anne mit ihrem kleinen Sohn Leon vor der Türe.
Auch sie ist ein Flüchtling. Allerdings aus Hamburg-Ottensen, weil ihr Mann eine andere liebt. Vera nimmt Anne und Leon auf. Sie kommen mit einander aus, besonders gut, wenn sie sich aus dem Weg gehen.
Dazwischen erzählt Dörte Hansen die Geschichten von Hinni Lührs, Dirk vom Felde und anderen Bauern, deren Familien seit Urzeiten im Alten Land leben und Obstbäume bewirtschaften. Sie reden nicht viel diese Bauern. Meist reicht ein Nicken, oft ein Wegschauen. Echte Dialoge kann man an einer Hand abzählen und dennoch kommunizieren sie alle miteinander. Irgendwie.
“… Finger an die Mütze, Abfahrt. Bloß kein Wort zu viel. Als hätte man nur einen kleinen Vorrat der bis zum Lebensende reichen müsste.”
Vera ist eine Einzelgängerin, schläft kaum, reitet fast täglich aus und dazwischen behandelt sie die vereiterten Backenzähne der Bauern. Hinni Lührs, Witwer, neurotischer Ordnungsliebhaber, Nachbar von Vera, hat ein Auge auf sie. Durch sein Küchenfenster hat er Veras Hof im Blick. Durch’s Fenster passt er auf Vera auf, bringt ihr jeden Morgen die gelesene Zeitung und abends spielen sie manchmal Karten.
Ich war noch nie im Alten Land, aber eines Tages möchte ich diese Landschaft sehen und begreifen.
So wie die Touristen, die mit den Bussen an wunderschönen, alten Höfen, an geharkten Beeten und endlosen Reihen Apfelbäumen vorbei fahren. Wer träumt nicht von einem Leben auf dem Land? Burkhard und seine Frau Eva taten dies. Naive Großstadtflüchtlinge aus Hamburg-Eppendorf, die in der Gummistiefelwelt ihr Glück finden wollten. Aber es ist nicht leicht auf dem Land. Im Winter kämpft Eva mit Depressionen, im Sommer mit dem Unkraut. Sie kommen nicht richtig an bei den Bauern, die die Schnauze voll von den besserwisserischen Großstadtmenschen haben.
“… Diese Öko-Missionare konnten Boskoop nicht von Jonagold unterscheiden und hatten garantiert noch nie einen verwurmten, schorfigen Finkenwerder Herbstprinz gefressen, sonst wüssten sie, dass diese beschissenen alten Sorten völlig zu Recht ausstarben. …”
Ich habe das Buch vergangene Woche ganz spontan im Buchgeschäft gekauft. Der Titel sagte mir was, das Cover hatte ich auch schon irgendwo gesehen. Als die vorbeihuschende Verkäuferin meinen Blick auf dieses Buch sah, sagte sie mir “Sie werden nicht enttäuscht sein! Ganz tolles Buch!”.
Ich kaufte, ging nach Hause und las. Sie hatte recht, die Verkäuferin. Ich wurde nicht enttäuscht und hoffe nun sehr, dass Dörte Hansen bald einen neuen Roman rausbringt.
Liebe Grüße
Bine
- Hansen, Dörte (Autor)
Letzte Aktualisierung am 2024-10-31 / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API
22 Kommentare
Danke für deine Rezension. Ich bin auch schon oft an dem Buch vorbeigelaufen, und nun werde ich es mir zum Geburtstag wünschen. Und sei es nur, weil mich auch nach mehr als sieben Jahren im Exil das Heimweh nach Hamburg und dem Umland plagt und ich deshalb nicht genug haben kann von gut geschriebenen Geschichten, die in dieser Gegend spielen.
Wenn Du aus der Gegend kommst, dann wirst Du das Buch sicherlich noch mit ganz anderen Augen lesen.
Deswegen: ja, unbedingt auf die Wunschliste setzen! :-)
Dazu kenne ich als Hamburgerin fast jede beschriebene Ecke und wohne dicht am Alten Land … erst gefiel es mir gar nicht – zu trüb – dann hat es mich mit jeder Seite mehr gefesselt. Den Lesetipp bestätige ich gerne.
Das freut mich sehr. Und ich gebe Dir recht… anfangs ist es düster und ein bisschen wirr, aber ich konnte es dennoch nicht weglegen! :-)
Das Buch hab ich auch schon vor einiger Zeit verschlungen … kurz nach einem …. ach nach DEM Hamburg Trip ….
und ja ich bin schon x-mal in den Buchladen gelaufen und hab nach einem neuen Buch gefragt. Mein Tipp für Dich … DAS HÖRBUCH … wunderwunderschön gelesen von der wunderbaren Hannelore Hoger … das überbrückt die Wartezeit ????
Jaaaaa! Ich liebe die Stimme von Hannelore Hoger. Ich war von dem Buch so fasziniert, dass ich anschliessend danach und nach Dörte Hansen gegoogelt habe. Und so bin ich auf das Hörbuch bei Youtube gestoßen. Super!
Das klingt so gut liebe Bine! Ich habe das Buch gleich in der Bücherei vorbestellt :)
Liebe Sonntagsgrüße
Sternie
Gute Entscheidung, Sternie! :-)
Passend beschrieben, es hat Spaß gemacht das Buch zu lesen.
Lieben DANK! Ich freue mich sehr über das Lob. Manchmal denke ich, wenn ich so begeistert bin und darüber schreibe: vielleicht sehen das andere ja gaaanz anders. ;-)
Eins meiner Lieblingsbücher!!! Schön beschrieben! LG von Annette
Danke, Annette! Siehe oben- das freut mich sehr! :-)
Ich habs auch vor einiger Zeit gelesen und liebe es.
Hoffentlich schreibt sie bald was Neues!
LG
Renate
Das hoffe ich auch sehr!
Mir ging es mit diesem Buch ähnlich. – In der Bücherei gesehen, von meiner Lieblingsbibliothekarin wärmstens empfohlen, ausgeliehen, verschlungen und sofort danach zum Behalten gekauft… – Stimmt, teilweise ist es düster, schwer, trotzdem ist es wunderbar geschrieben und ich konnte vieles nachempfinden, auch ich habe einen “Flüchtlingspapa”.
Jetzt hoffe ich auf ein weiteres Buch der Autorin. :-)
GlG, Edeltraud
Danke für Deinen Kommentar, Edeltraud!
Ich mache das viel zu selten- mich von einer Verkäuferin (oder einem Verkäufer) beraten zu lassen.
Das sollte ich mehr tun. Meist lese ich die Empfehlungen im Internet.
Ja, das Buch ist manchmal düster… aber dazwischen sehr erheiternd. Tolle Mischung.
Und wenn man noch einen persönlichen Bezug zu einer Geschichte hat… das ist was Besonderes!
Liebe Grüße Bine
Ich habe das Buch auch sehr gerne gelesen.
Ach, übrigens, es soll eine Buchhandlung in Eppendorf geben, die das Buch nicht verkauft, weil die Ottensener Damen so klischeereich beschrieben werden…….. Da sag ich mal nix weiter dazu! :-)
Nein?! Wirklich? Ich lach mich schlapp. Und im Nachhinein nochmal über die Passagen über die Otensener Damen
in dem Buch… :-)))
Liebe Grüße Bine
„…, reihte sich ein in den Treck der Ottensener Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömten, um ihren Nachwuchs zu lüften, die Einkäufe aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger-Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus reiner Schafwolle ein kleines Kind, das irgendetwas Durchgespeicheltes aus Vollkorn in der Hand hielt.”
Deshalb werde ich mir das Hörbuch kaufen.
Bist Du eine Ottensener Mutter, Vanessa? ;-)
Das Buch wäre nach dieser schönen Rezension auf jeden Fall auf meiner Wunschliste gelandet, wenn ich das Buch nicht schon Anfang des Jahres gelesen hätte. Ich fand das Buch auch sehr lesenswert.
Danke für “diese schöne Rezension”, Suse! ;-) Ja, ich war ein bisschen spät mit dem Lesen. Aber wenn ich schon ein echtes
Buch lese- also nicht mit dem Kindle, dann muss es auf jeden Fall ein Taschenbuch sein. Hard Cover ist mir abends im
Bett einfach zu schwer ;-)
Liebe Grüße Bine