Ich bin ein Karnevalsjeck. Ich freue mich, wenn mich an Weiberfastnacht in der Früh der Radiowecker mit “Stadt met K” weckt; ich liebe es mit meinen Kindern Kostüme zu basteln und zu nähen, ziehe mir gerne eine Perücke auf und male mir Herzchen auf die Wangen; genieße es, mit den besten Freunden zu Kölsche Lieder zu schunkeln und zu tanzen. Karneval ist ein Gefühl. Die einen lieben ihn, die anderen hassen ihn – meist die, die ihn noch nie richtig erlebt haben. Das ist okay, denn niemand wird gezwungen, Karneval gut zu finden.
In unserer Stadt finden an (fast) allen Karnevalstagen in den unterschiedlichen Stadtteilen Karnevalsumzüge statt. Größere, kleiner, längere, kürzere. Seit vielen, vielen, vielen Jahren fand in unserem Dorf der Umzug immer am Veilchendienstag statt. Mit den Jahren wurde der Zug kleiner, trostloser, stiller. An den Straßen standen nur wenige Menschen, meist Eltern, deren Grundschulkinder selber im Zug mitgingen. Es fanden sich keine Spielmannszüge mehr, die mitgehen wollten, einzelne Gruppen sagten ab.
Im Sommer letzten Jahres zogen die Verantwortlichen kräftig an der Reißleine und entschieden: Der Dienstag ist tot, hoch lebe der Freitag. Der einzige Tag, an dem bisher kein Umzug in den Stadtteilen statt fand. Es war ein Kraftakt der Überzeugung und Organisation. Viele Menschen mussten geworben, überredet und besänftigt werden, es wurden Flyer und Briefe und Plakate gedruckt und verteilt, auf allen Kanälen (analog und digital) massiv Werbung gemacht, Vereine und Musikgruppen wurden gefragt, gebeten, eingeladen, mit uns am Freitag durch’s Dorf zu ziehen. Alle wünschten sich, hofften und beteten, dass es gut werden würde. Keiner konnte wissen, ob es wirklich gut werden würde.
Und dann war er da, der Freitag. Meine Familie war dabei. Der Mann, die Tochter, der Sohn. Alle drei nahmen Aufstellung in ihren jeweiligen Gruppen. Mein Job war es, mit dem Rad zu verschiedenen Kreuzungen zu düsen und die Kinder mit Kamelle zu versorgen, die sie den jubelnden und Alaaf-rufenden Jecken am Wegesrand zu warfen. Petrus hatte gute Laune und bescherte uns einen blauen Himmel, statt vorhergesagtem Sturm. Das Dorf füllte sich, an den Zufahrtswegen parkten viele Autos, die Spielmannszüge machten ordentlich Musik und Dampf, noch nie sah ich so viele Menschen in unserem kleinen Dorf. Eine Welle der Erleichterung und Freude.
Es war eine gute und richtige Entscheidung mit einer Tradition zu brechen, um einer neuen Tradition den Startschuss zu geben. Liebe Dein Dorf, lebe die Tradition. Lasst uns feiern und unterstützt einen Brauchtum, der sonst im Sande verläuft und mit Sicherheit nie wieder belebt werden kann. Wat fott es, es fott.
In so vielen Dörfern und Städten schlafen Traditionen ein, werden nicht mehr gepflegt. Man fühlt sich nicht mehr verantwortlich, nicht mehr verbunden, man hat keine Lust mehr, sich zu kümmern. Die Älteren sterben aus, die Jüngeren interessieren sich nicht mehr. Jeder kennt jeden? War früher das non-plus-ultra, heute kommt das nur noch selten vor. Ja, online sind wir alle irgendwie miteinander verbunden. Ach, sieh an! Die kennt den ja auch!– wie gut, dass mir Facebook gemeinsame Freunde anzeigt.
Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt oder, ob ich das schöne Gefühl von persönlichem Zusammensein schon immer mochte… ich genieße es auf jeden Fall sehr, in einer Gemeinschaft zu leben, wo man sich kennt und hilft. Wo man sich austauscht und gemeinsam Zeit miteinander verbringt. Ob das nun bei Kölschen Liedern und einem Fäßchen Bier ist, bei Kaffeeklatsch mit Kuchen oder einfach auf der Straße auf dem Weg zum Bäcker.
Gestern Abend- nach dem letzten Zug, dem letzten Piccolo und dem letzten Alaaf, machte ich mich auf der Couch lang und schaute mir eine Reportage über ein kleines Dorf im Kreis Düren an, wo jedes Jahr die Karnevalshölle tobt. Der ortsansässige Metzger leitet dort die Musikgruppe, der Elektriker kümmert sich um die Verkabelung, der Ortsvorsteher lagert das Bühnenbild auf seinem Hof. Ich war fasziniert und habe innerlich applaudiert, denn so eine Dorfgemeinschaft ist eine Seltenheit geworden. Man kennt sich, man hilft sich. Ich finde es wichtig, dass wir durch unser online-Leben nicht den Anschluss am analoge Leben verlieren. Und ich bin froh, dass meine Kinder genauso diesen Brauchtum leben und pflegen. Was bleibt ihnen auch (noch) anderes übrig? So lange sie die Füße unter meinem Tisch… ;-)
Karneval nimmt in diesen Breitengraden natürlich die Pole Position ein- in anderen Regionen gibt es ganz andere Traditionen und Feste. Pfarrfest, Weinfest, Heimatfest, Schützenfest, Oktoberfest, Feuerwehrfest. Rock’n Roll und Ufftata! Ist das noch zeitgemäß? Viele meinen sicherlich: nein. Ich meine: ja. Hin und wieder mal den Hintern hoch bekommen und hingehen! Menschen treffen, wiedersehen, kennen lernen, mit einander reden. Und wenn dann die Musik noch so genial ist, wie in Kölle, dann kann es auch passieren, dass man zusammen schunkelt. Aber Achtung- es könnte Spass machen. Und vielleicht auch süchtig.
Ich habe in den letzten Tagen unzählige Fotos mit dem Handy gemacht. Von den Kindern, von den Freunden, von coolen Kostümen, Selfies mit einer, mit zehn Freundinnen…. zwischendurch dachte ich immer mal wieder kurz an Instagram, verwarf den Gedanken aber gleich. Nein, zu privat, zu persönlich, zu sehr offline-Leben. Ich hätte Euch gerne ein Foto von uns als M&Ms gezeigt, vergaß aber in dem ganzen Trubel, eine Freundin zu bitten, uns zu fotografieren- ohne Gesichter.
Ihr seht, ich bin noch ganz beseelt von den schönen Tagen, die nun hinter uns liegen. Für einige vielleicht ein bisschen zu viel beseelt. ;-) Nehmt es mir nicht übel…. mir war heut morgen einfach nach schreiben und Gedanken sortieren. Und, um wieder rein zukommen, in meine online Welt, denn das eine schließt das andere ja nicht aus.
Heute werde ich die letzten Spuren beseitigen. Glitzer, Konfetti, Federn, Schminke und Kostüme werden in Kisten verpackt, um sie im nächstes Jahr wieder rauszuholen.
Zum letzten Mal in diesem Jahr: Dreimol Kölle Alaaf und liebe Grüße, Bine
13 Kommentare
Fasching (oder Karneval bei Euch, weil man ja Fasching nicht sagen darf, wie mich der Köln-Tatort zum Thema lehrte ;) ) ist für mich nach wie vor ein Buch mit 77 Siegeln. Klar, hier in der Schule gibt’s auch Fasching, mit mehr oder weniger Begeisterung bei den Lehrern, im Kindergarten schon eher. Und natürlich mit selbstgenähten Kostümen. Und letztes Jahr haben wir auch im Haus einen gemacht, der muß dieses Jahr ein wenig verschoben werden (ist das Frevel, den erst später zu machen? ;) ) Das war auch für mich Verkleidungsmuffel lustig (ich bin als Möhre gegangen mit immer trockener werdendem Kraut auf dem Kopf). aber so die richtige Karnevalskultur… da muß man wohl wirklich drin stecken. Faszinierend trotzdem, darüber zu lesen auf dem ein oder anderen dort ansässigen Blog, mit welcher Begeisterung, Euphorie, Liebe und Wärme…
Dann wünsche ich eine gute Erholungszeit bis es wieder heißt: Alaaf!
dörte
Ja, da muss man wohl wirklich drin stecken, liebe Dörte, Ich z.B. kann mir nicht vorstellen, auf dem
Oktoberfest abzurocken. In Lederhose oder gar Dirndl? Gott bewahre! Dabei ist es doch dem Karneval
so ähnlich!
Liebe Grüße Bine
Hach, schön, daß Euer Freitag ein Erfolg war. Und schön, daß Ihr Traditionen pflegt.
Wir waren auch, wie jeden Karnevals-Sonntag, in der Heimatstadt umd zum ersten Mal war mein Bruder mit seiner Familie da. Meine kleine Nichte muss doch schon mit 9 Monaten eingeführt werden- und hat herrlich neben dem Rummtata geschlafen. Herrlich! Und für mich, die ich dort aufgewachsen bin und früher auch 5 Tage am Stück gefeiert habe, sehr wichtig- denn hier in Dortmund bekommen meine Mädels die Tradition leider nicht so mit …
In diesem Sinne- Bützche und ein dreifaches Jülich Alaaf! Yvette
PS: In Amerika letztes Jahr gab es übrigens das Aschenkreuz im Drive-in, ohen Auszusteigen. ;-) Was ein Service, oder?
Nein, Yvette! Das kann ich nicht glauben! Das Aschekreuz im Drive-in? Ich lach mich schlapp. Die Amis sind eben
pragmatisch.
Bützche & Alaaf zurück, Bine
Hach. Das freut mich, dass Euer Freitag ein Erfolg war.
Ich bin noch nicht ganz im neuen Heimatort angekommen. So waren wir beim Veedelszoch bei meinen Eltern.
Für nächtens Jahr habe ich aber beschlossen in der neuen Heimat zu bleiben. Es wird sicher schade sein, alte Freunde an diesem Tag nicht zu sehen, aber vielleicht eine Chance neue Freunde zu finden.
Der Dorfzug bei meinen Eltern wurde vor einigen Jahren eingestampft. Darüber war ich sehr traurig, schliesslich war er immer ein großer und wichtiger Teil meiner Kindheit… aber wir haben uns hier mittlerweile so eingelebt, deswegen kann ich damit leben. Schade ist, dass wenn sowas einmal aufgegeben wird, meist nie wieder belebt werden kann.
Aber die Zeiten ändern sich eben auch…
Liebe Grüße Bine
Bekennende Karnevals-Hasserin. Und nicht weil ich den noch nie erlebt hätte, nein – das Gesaufe geht mir daran genauso auf die Nerven wie beim Oktoberfest dort wo ich mal gearbeitet habe. Nein, ich stamme aus der Hochburg der alemannischen Fasnacht und die ist mir hundert Mal lieber weil sie für mich von ganz tief innen kommt und eher etwas wildes und ursprünglicheres hat hier im wilden Süden als all das Geschunkele und Gejohle – nix für ungut, jedem das Seine. ♥nic
Liebe Nic, Karneval ist nicht gleich Karneval :-) Und mit dem Aufrechthalten von Traditionen und Brauchtümer
habe ich die Alemanische Fastnacht genauso mit bedacht, wie das Pfarrfest, das Feuerwehrfest, das Weinfest.
Ich finde jedes Fest, bei dem Menschen zusammen kommen, feiern und glücklich sind, haben ihre Berechtigung.
Aber ich gebe Dir natürlich recht- jedem das Seine, denn jeder Jeck ist anders.
Liebe Grüße Bine
ein volles Daumen-hoch aus der Nachbarschaft! Wir wohnen ja erst relativ kurz in deine Stadtteil und haben den Freitag total zelebriert… wir sind halt auch totale Karnevalisten. Alle 4. Wir haben es total genossen. Ich liebe diese Dorfgemeinschaft…. danke für deine Worte. Ich kann da einfach nur nicken. Jep.
Liebe Bettina… aus der Nachbarschaft? Jetzt bin ich neugierig ;-) Ich freue mich total, dass Ihr den Freitag auch
so genossen habt! :-)
Liebe Grüße Bine
Liebe Bine, ich finde deinen Text einfach nur wunderschön, zuckersüß und herzig! Vielleicht treffen diese Attribute nicht wirklich zu! Für mich ist es ein ganz wunderbares Thema, eine wundertolle Einstellung und ich freue mich, dass du heute morgen schreiben musstest! Mein Herz ist warm und gleichzeitig sehr schwer! Was vermisse ich den rheinischen Karneval (in Düsseldorf ????)
Danke für deine Worte, mehr davon!!!
Helau, Theresa
Liebe Bine,
was für ein wunderschöner Artikel. Und als absoluter Karnevalsjeck, der seid kleinauf dabei ist ging er mir umso mehr ans Herz! Gerade, weil die von dir beschriebene Situation unserem Dorf in diesem Jahr sehr ähnelt. Bei uns ist es allerdings der Sonntag, der nicht mehr zieht. Und so haben die Veranstalter beschlossen Karneval bei uns in diesem Jahr ganz abzusagen. Sehr schade und mir als alter Karnevalsjeck, der immer dabei war blutet das Herz. Es ist schon was anderes, wenn man immer selber mitgegangen ist und nun “nur” am Rand stehen darf. Ich hoffe sehr darauf, dass die Menschen sich bei uns nochmal zusammen raufen und nächstes Jahr Karneval – gerne auch an einem anderen Tag – hier wieder stattfindet. Ich finde es bewundernswert, was manche Dörfer für einen Zusammenhalt haben – egal bei welchen Fest. Mich freut es immer sehr zu sehen und frage mich, warum es so nicht auch woanders so stattfinden kann…
Nach den stürmigen Tagen wünsche ich dir ein paar ruhige :)
Liebe Grüße, Michelle
Liebe Bine, Du schreibst mir aus der Seele. Es lebe das analoge Miteinander. Egal welches Fest in der Gemeinschaft. Ich bin im Dorf im Rheinland aufgewachsen. Mit Karneval, Kirmes, Sportfest, Dorffest, Feuerwehrfest,.. Umzügen und Prozessionen. Herrlich. Danach bin ich viel umhergezogen im In- und Ausland. Meine Kinder sind – von Gemeinschaftsaktionen in den Schulen -ohne dieses dörfliche Miteinander aufgewachsen. Dafür bedauere ich sie sehr.
LG Ute